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Der städtische Raum

Reinhard Strohm

Wien („Wienn“) war im Spätmittelalter mit 20.000 bis 30.000 Einwohnern die volkreichste Stadt der habsburgischen Territorien und für die meiste Zeit Residenz der Herzöge von Österreich. Mit der Kapitelkirche von St. Stephan, dem Schottenkloster und anderen geistlichen Institutionen war die Stadt ein hervorragendes kirchliches Zentrum.[1] Der berühmte „Albertinische Stadtplan“ des früheren 15. Jahrhunderts (» Abb. Albertinischer Stadtplan Wiens) präsentiert, mit Beschriftungen, die wichtigen Statussymbole Wiens: Kirchen, Klöster, die Burg, das Universitätskollegium, die Stadtmauer und Stadttore. Drei Beschriftungen, die die weltliche Herrschaft betreffen („Das ist die stat wien“, „Das ist dy purck“, „Das ist dy hochschul“), sind durch rote Farbe und eine besondere Ausdrucksweise („Das ist …“) hervorgehoben; dies soll den Betrachter direkt ansprechen. Merkwürdigerweise fehlt das Rathaus. Innerstädtische Straßen zeigt der Plan gar nicht; die Flüsse Donau, Wien und Alserbach bilden einen mehr dekorativen Rahmen. Die Abbildung der Stadt Pressburg in der linken oberen Ecke deutet weniger eine topographische als eine funktionale (politisch-ökonomische?) Beziehung an. Insgesamt soll der Plan nicht die urbane Form Wiens erklären oder gar ein Zurechtfinden in der Stadt erleichtern, sondern die Würde und diplomatische Bedeutung der Herzogsstadt Albrechts V. hervorheben.[2] Allerdings sind innerhalb des Wiener Stadtbereichs die Entfernungen zwischen den Kirchen ungefähr zutreffend bemessen, und der gesamte Plan ist einem annähernd zutreffenden Maßstab unterworfen.

Der von Bonifaz Wolmuet 1547 hergestellte Stadtplan des spätmittelalterlichen Wiens kann hingegen das Verstehen des städtischen Musiklebens unterstützen (» Abb. Stadtplan Wien 1547 Wolmuet). Entscheidend dafür ist, dass Straßen eingezeichnet sind[3] und dem ganzen Plan exakte Vermessungen zugrunde liegen, so dass alle Entfernungen realistisch dargestellt werden.

 

Abb. Stadtplan Wien 1547 Wolmuet

Abb. Stadtplan Wien 1547 Wolmuet

Bonifaz Wolmuet, Steinmetz und Baumeister, der 1530–1546 an Befestigungsbauten Wiens beteiligt war, zeichnete diesen Stadtplan 1547 nach einer Radierung und Tuschezeichnung von Augustin Hirschvogel, der exakte Vermessungen unternommen hatte. Noch nicht alle hier eingezeichneten Bastionen waren 1547 schon fertiggestellt. Ansicht von Norden (unten); die Donau ist am unteren Bildrand erkennbar.
Farblithographie von Albert Camesina, 1853; A-Wa, 3.2.1.1.P1.236G.

 

Eine Art von Anlass, bei dem die Straßen der Stadt eine wichtige Rolle spielten, waren allgemeine städtische Prozessionen. Diese führten gewöhnlich von St. Stephan (im Plan links der Mitte) nach dem Schottenkloster am westlichen Ende der Stadt (rechts, zwischen zwei größeren Plätzen). Hierfür verlief einer der Wege südlich entlang des Grabens (der mit einer auffallenden Krümmung bei St. Stephan beginnende Straßenzug), dann links über den Kohlmarkt zur Michaelskirche und herzoglichen Burg (Mitte oben), dann durch die schräg nach rechts unten verlaufende Achse der heutigen Herrengasse zur Freyung (mehreckiger Platz); das Schottentor ist am Ende derselben Straßenachse weiter rechts. Von der Freyung konnte man – wie heute – über den großen Platz Am Hof mit dem Karmeliterkloster (rechts der Mitte) und vorbei an der Peterskapelle in ziemlich gerader Linie nach St. Stephan zurückkehren. Ein weiter nördlicher Prozessionsweg führte zurück von der Freyung nach Norden in Flussrichtung, die Wipplinger Straße kreuzend und gleich darauf nach Osten abbiegend, wo die Kirche Maria „auf der Stetten“ (Maria am Gestade, gerade über einer großen Bastion der Stadtmauer) und der Hof des Passauer Offizials berührt wurden, und über den Hohen Markt (länglicher Platz Mitte unten) zur Rotenturmstraße. Auf beiden Routen kreuzte man die Tuchlauben und damit die bedeutende süd-nördliche Trasse, die von der Burg und Michaelskirche über den Kohlmarkt und die Tuchlauben hinunter zum Hohen Markt und den Befestigungen an der (damaligen) Donau führte. Diese Trasse verband das Widmertor (bei der Burg) mit dem Werdertor (am Werder, d. h. Ufergelände). Die andere, fast parallele Süd-Nord-Achse, die in der Mitte bei St. Stephan einen leichten Knick hat, ist damals wie heute der Straßenzug Kärntner Straße–Rotenturmstraße, der zwei der strategisch und wirtschaftlich wichtigsten Stadttore, das Kärntner Tor und den Roten Turm, verbindet; vor dem Roten Turm gelangte man auch zur einzigen Donaubrücke (weiter links unten), die der heutigen Taborbrücke entspricht.[4]

[1] Die Geschichte Wiens ist ausgebreitet in den Archivquellen bei Verein für Geschichte der Stadt Wien 1895–1937 und erzählt von Historikern wie z. B. Csendes/Opll 2001. Die Jahrgänge der Wiener Stadtrechnungen werden im Folgenden abgekürzt: “Wiener Stadt- und Landesarchiv (A-Wsa), 1.1.1. B 1/ Oberkammeramtsrechnung 1. Reihe 1 (1424)“ usw. wird hier angegeben als „OKAR 1 (1424)“ usw.

[2] Opll 2015, Tafel 1 und 2.

[3] Vgl. Perger 1991.

[4] Zu Prozessionswegen vgl. » E. Musik im Gottesdienst, Kap. Prozessionen von St. Stephan.