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Schlaglicht: Visitatio sepulchri

Stefan Engels

Lat. visitatio sepulchri (der Besuch des [heiligen] Grabes) bezeichnet einen Abschnitt der Osterliturgie. Es handelt sich um eine dramatische Ausgestaltung des Ostergeschehens (» A. Osterfeier). Der älteste Beleg dafür ist wahrscheinlich eine Beschreibung in der Regularis concordia (GB-Lbl), einer Regel benediktinischer Reformklöster aus dem englischen Winchester (10. Jahrhundert). Der Ablauf war überall ähnlich: Meist am Ende der Matutin am Morgen des Ostersonntages vor dem Te Deum erfolgte eine Prozession zu einer in der Kirche aufgestellten Nachbildung des Heiligen Grabs, deren Inhalt (Kreuz oder Corpus des Gekreuzigten) während der Nacht entfernt worden war (elevatio crucis), sodass das Grab nun leer war. Mitglieder des Klerus übernahmen die Rollen der drei Marien und eines oder zwei Engeln. Letztere konnten auch von Chorknaben gespielt werden, während die Rollen der drei Marien in Frauenklöstern auch von Nonnen übernommen werden konnten. In einem Dialog von Engel und Frauen gemäß den Berichten aus den Evangelien bezeugte der Engel, dass Christus auferstanden war. Die Frauen ihrerseits verkündeten dies der anwesenden Gemeinde. In einer weiteren Spielszene, die in manchen Gegenden, darunter auch im österreichischen Raum, hinzugefügt wurde, liefen Petrus und Johannes zum Grab. Musikalische Basis der visitatio waren gregorianische Gesänge aus der Liturgie, allen voran der Ostertropus Quem queritis in sepulchro (Wen sucht ihr im Grabe). Für den dramaturgischen Verlauf notwendige verbindende Texte wurden neu auskomponiert. Im deutschsprachigen Raum endete die visitatio sepulchri in der Regel mit dem deutschen Gemeindelied Christ ist erstanden (» B. Geistliches Lied; » B. SL Christ ist erstanden).

Die visitatio sepulchri war im späten Mittelalter ein fester Bestandteil der Liturgie und, wie die einzelnen libri ordinarii zeigen, mit Einschluss des deutschsprachigen Liedes bindend vorgeschrieben. Daher ist es problematisch, die visitatio sepulchri als „paraliturgisch“ zu bezeichnen. Die visitatio ist weiters strikt von den lateinischen oder volkssprachigen Mysterienspielen zu trennen, die zwar die rituellen Elemente der visitatio und deren Gesänge zitieren bzw. verwenden konnten, aber mit dem eigentlichen Ostergottesdienst nichts zu tun hatten.


Empfohlene Zitierweise:
Stefan Engels: „Visitatio sepulchri“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/kapitel/schlaglicht-visitatio-sepulchri> (2016).