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Tu ne quaesieris

Franz Vitzthum, Klaus Wenk, Gerhard Hölzle, Marcus Schmidl
  • Gesang
Trient, um 1462-1468
fol. 168v-170r
eingespielt im Auftrag des FWF-Projekts ,Musikleben’
Stephan Reh

Die anonyme vierstimmige Motette “Tu ne quaesieris” wurde im Codex I-TRbc89, fol. 168v-171r, etwa um 1466 kopiert. Ihr Text ist eine berühmte Ode von Horaz (Carmina Buch I, 11). Der Dichter rät einer Dame (Leuconoe), die Sorge um die Zukunft und das eigene Lebensende aufzugeben, stattdessen am Winterabend Wein zu trinken und dem jetzigen Tag zu leben, was in der sprichwörtlich gewordenen Aufforderung “Carpe diem” (Pflücke den Tag) gipfelt. Die Vertonung besteht aus zwei Teilen; in jedem werden vier der acht Gedichtzeilen vorgetragen. Das horazische Metrum des Asclepiadeus maior bleibt in den Notendauern unbeachtet, jedoch werden nach einer melismatischen Einleitung die Textworte meist syllabisch und oft homophon deklamiert. Alle vier Stimmen sind vollständig textiert und auch so komponiert, dass sie den Textvortrag ermöglichen. Obwohl die Tradition der Vertonung horazischer Dichtung sehr weit zurückging, waren Horazvertonungen in mensuraler Musik vor 1466 noch unbekannt (Staehelin 1986). Die genaue Beachtung der lateinischen Metren erscheint erst ab ca. 1480 (» I. Odengesang), wobei allerdings der italienisch beeinflusste Tiroler Hof (» D. Hofmusik. Innsbruck unter Herzog Siegmund) eine Rolle spielen könnte. Aus demselben Grund käme als Komponist dieser Motette der Innsbrucker Hofmusiker Nicolaus Krombsdorfer in Frage, der 1466 Trient besuchte (» G. Nicolaus Krombsdorfer).